Damenwahl.

Eine Ballepisode von Teo von Torn.
in: „Leipziger Tageblatt” vom 14.02.1902,
in: „Rostocker Anzeiger” vom 16.02.1902,
in: „Badener Zeitung” vom 26.02.1902 und
in: „Der deutsche Correspondent” vom 06.07.1902


„Sag' 'mal, Malottkichen —” ächzte der Assessor Justus Grewe, indem er seinen Freund und Collegen, den Baron von Malottki-Sestow, am Frackärmel erwischte und sein freundlich blankes Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse verzog, „sag' 'mal, Malottkichen, Du glaubst doch nicht, daß mich hier Jemand stören wird?”

„Aber worin denn, Dicker — — herrje, wie siehst Du aus! Hast Du Bauchgrimmen?”

„Neeee —”

„Oder zu enge Stiefel?”

„Das ist es. Außerdem habe ich zwei Rechte — anstatt eines Rechten und eines Linken. Das ist schlimm, sage ich Dir —”

„Na hör 'mal, Grewe, so was macht man doch auch nicht!”

„Allerdings, für gewöhnlich nicht. Wenn ich einen gutgezogenen Kammerdiener hätte, wie Du, dann könnte mir das auch nicht passiren. Aber ich bin auf das Hausmädel meiner Wirthin angewiesen — und das Frauenzimmer hat sich zu Weihnachten einem Hilfspostboten verlobt. Seither läßt sie ihre Zerstreutheit in ihrer Verliebtheit an mir aus.”

„Zum Teufel, man merkt doch, wenn man einen verkehrten Stiefel anzieht!”

„Das sagst Du so, Malottkichen — aber wenn man außerdem selber verliebt ist, dann merkt man das nicht. Meine Lackstiefel sind alle ein bißchen eng — und da habe ich geglaubt, die linke Hinterflosse wäre um ein Weniges geschwollen. Ich dachte, das würde sich geben — aber es giebt sich nicht! Im Gegentheil, es wird immer schlimmer.”

„Ja, Dicker, dann wirst Du eben nach Hause gehen müssen.”

„Das kann ich nicht. Fräulein Lieschen's wegen. Du weißt — —”

„Weiß schon, weiß schon,” winkte Herr von Malottki ein wenig ungeduldig ab. „Das Schmachtobjekt Deines schüchternen Herzens. Mensch, wie kann man so dick und dabei so schüchtern sein! Na, gleichviel. Jedenfalls kannst Du hier in der Garderobe nicht sitzen bleiben. Das würde schließlich doch auffallen. Außerdem — Lieschen's Papa hat schon zweimal nach Dir gefragt — —”

„Gefragt!” rief der rundliche Assessor, indem es in seinem Antlitze aufstrahlte wie ein Sonnenblick zwischen Regenwolken. „Richtig gefragt!?”

„Jawohl, der Herr Landgerichtsdirector erkundigte sich, ob Du schon wieder am Buffet herumnaschest. Des Weiteren fällt mir ein, daß Fräulein Lieschen schon seit einiger Zeit einen langen Hals macht —”

„Nach mir!??”

„Das weiß ich nicht — aber einen langen Hals macht sie, und da es doch nicht ausgeschlossen ist, daß sie nach Dir ausschaut, so würde ich mich eben 'mal wieder sehen lassen.”

„Aber Malottkichen, ich — —”

„Du brauchst doch nicht zu tanzen! Und in dem Trubel achtet kein Mensch darauuf, wenn Du Dir den linken Rechten versteckt ein bischen lockerst. Der Herr Landgerichtsdirector wird den Verdacht der Gefräßigkeit fallen lassen, und Du hast den Genuß, sein Fräulein Tochter in ihrem grasgrünen Tarlatan wie einen vergnügten Laubfrosch herumhüpfen zu sehen. Na — —?”

„Ich komme,” erklärte Justus Grewe resolut, indem er sich erhob und den Arm seines Freundes heranangelte; „aber Du mußt mich stützen, Malottkichen! Sonst schlage ich hin. Du hast ja keine Ahnung, was es heißt, zwei rechte Füße zu haben — —”

— — — — — —

Seit einer halben Stunde schon saß der dicke Assessor in einem jener Palmenhaine, mit denen die vier scharfen Ecken jedweden Tanzsaales abgerundet und ausgeschmückt zu werden pflegen. Es war ein lauschiges, gemüthliches Plätzchen — und Justus Grewe war in der gehobensten Stimmung. Erstens hatte die Freundschaft das Exil mit einer Flasche Mosel ausgestattet und zum Anderen bemerkte der Assessor mit wachsendem Entzücken, daß Fräulein Lieschen wirklich einen langen Hals machte — und zwar unverkennbar nach der Richtung des Palmenhains . . .

Das begeisterte ihn schließlich derart, daß er trotz des linken Rechten, der nur noch mit dem Gummizug den malträtirten Fuß umfing, um ein Haar hinausgestürmt wäre, um die Angebetete seines Herzens zu dem eben beginnenden neuen Tanze aufzufordern.

Aber er besann sich rechtzeitig — außerdem trat in diesem Moment Herr von Malottki ein, um sich nach dem Befinden des auf der Palmeninsel Ausgesetzten zu erkundigen.

„Na, Dicker, wie geht's? — anscheinend gut, denn Du hüpfst ja schon herum.”

„Malottkichen, gieb mir'n Kuß! Seit ich den verfluchten Stiebel herunter habe, bin ich ein anderer Mensch! Außerdem sieht sie wirklich her — wahr und wahrhaftig, immerlos sieht sie her! Der Mensch braucht doch eigentlich nicht viel, um glücklich zu sein: zwei blaue Augen, die nach einem ausschauen und ein Stiefel, der einen nicht drückt! Ich bin ein glücklicher Mensch, Malottkichen. Willst ein Glas Sect?”

„Ja, gieb her, mein Junge. Ich werde Dir übrigens eine Weile Gesellschaft leisten — — eben hat die Damenwahl angefangen —”

„Die Damenwahl! Donnerwetter, da muß ich mal sehen, wen Fräulein Lieschen auffordern wird, damit ich dem Menschen nachher das Genick umdrehen kann. Eben steht sie auf — —”

„Das wäre nun weder schön, noch gerecht, Dicker!” lachte der Baron. „Da Du nicht mit ihr tanzest, muß sie sich doch bei Anderen schadlos halten —”

„Oh, bitte sehr! Ich habe wohl getanzt, gleich den ersten Walzer. Mir war zu Muth, wie einem indischen Fakir, welcher seiner Gottheit das Gelübde gethan, auf glühenden Drahtnägeln zu laufen, und das hat mir auch den Rest gegeben — aber getanzt habe ich.”

„So. Na, der Mensch kann viel aushalten, wenn er will. Immerhin würde ich Dir empfehlen, Dich nicht allzu sehr zu exponiren! Die Damenwahl ist für Leute, die aus irgend einem Grunde Terpsichoren abhold sind, eine gefährliche Einrichtung — — hoppla! Au!!”

Der Baron wurde so plötzlich und heftig unterbrochen, daß er sich in die Zunge biß; denn Justus Grewe war von seinem Auslug zurückgetaumelt und hatte sich — theils vor Schreck, theils auch, weil ihn der halb angezogene Stiefel aus der Balance brachte — mit der ganzen Wucht von reichlich hundert Kilo dem Freunde auf den Schooß gesetzt.

„Mensch!” rief Herr von Malottki halblaut, indem er den Dicken abschüttelte: „Du bringst mich um! Was ist denn los, zum Donnerwetter noch einmal!”

„Sie kommt, Malottkichen! Sie kommt!” keuchte Assessor Grewe athemlos hervor. Dann warf er sich in seinen Sessel und zerrte wie rasend an seinem Stiefel. „Hast Du Worte, Malottkichen! Sie kommt — und ich — ich kriege das Biest nicht an, den verdammten Stiefel — — aber er muß — er muß! Und wenn ich dabei in die Luft gehe — er muß — hup ooh! Na endlich!”

Roth wie ein gesottener Krebs und die Stirn mit hellen, dicken Schweißtropfen bedeckt, hinkte der Unglückliche empor — und gerade rechtzeitig, um den einladenden Knicks von Fräulein Lieschen Perbandt zunächst durch eine tiefe Verbeugung zu erwidern. Dann stelzte er wie ein vorsichtiger Storch auf sie zu und bot ihr den Arm. Noch ein letzter Blick — so ein Mittelding zwischen Jauchzen und Heulen — traf den Baron — — dann verschwand das Paar im Gewühl der Tanzenden.

Herr von Malottki sah ihm mit gemischten Empfindungen nach. Er wußte nicht recht, ob er lachen oder um den Freund besorgt sein sollte. Die Situation war an sich ja komisch, aber wenn der Dicke sich auf seinem linken Rechten nicht halten konnte oder — —

Um besser sehen zu können, war der Baron aus dem Palmenwinkel herausgetreten. In dem nämlichen Moment trat der Landgerichtsdirektor Perbrandt, welcher soeben heftig und unter lebhafter Gestikulation auf ein Comitémitglied des Juristenvereins eingesprochen hatte, an ihn heran.

„Sagen Sie Herr —, Sie sind mit dem Assessor befreundet, wie ich weiß! Ist der Mann verrückt oder betrunken? Sehen Sie mal blos an, wie der Mensch tanzt! Und dazu mit meiner Tochter! Sehen Sie nur — — da! Er klammert sich förmlich an sie an — er umarmt sie und preßt sie an sich! Das ist ein Scandal! Ein Affront! Er fällt bereits allgemein auf — was sollen die Leute denken! Ich frage Sie, ist der Mensch betrunken!?”

Es war allerdings fürchterlich. Justus Grewe hielt sich an Fräulein Lieschen wie ein Seekranker bei hohem Wellengange einen Mast umklammert. Dabei zuckte er bei jedem Pas mit dem linken Fuße auf, als wenn er vom Veitstanz befallen wäre. Die gutmüthigen blauen Augen traten ihm schier aus dem Kopfe und der Schmerz nahm ihm jeden Sinn dafür, daß auch noch andere Paare sich um ihn drehten. Wie eine von der Hammeldrehe befallene Locomotive fegte er mit einer solchen Rasanz umher, daß Alles zur Seite flog, was ihm irgend in die Schußlinie kam. Und auch jetzt, da der Tanz zu Ende war und die Musik abbrach, konnte er nicht gleich bremsen . Erst als Frau Landerichtsrath Perbandt sich ihm wie ein Prellbock entgegenstemmte, stoppte er ab.

Fräulein Lieschen sank ihrer Mama verstört an den in Zorn und Entrüstung hochwogenden Busen, und Justus Grewe, seines bisherigen Haltes beraubt, in die Knie — just vor der Frau Räthin, zu der er aus verglasten Augen flehend aufschaute.

Während sich einige Herren der Gesellschaft um den Dicken bemühten, der von selbst nicht die geringsten Anstalten machte, sich zu erheben, kam der Baron auf einen rettenden Gedanken. Er wußte, daß der Landgerichtsrath sich für den sehr befähigten und tüchtigen Assessor Grewe interessirte — und vielleicht nicht nur amtlich; denn der Herr Rath war noch mit vier anderen Töchterlein gesegnet, von denen zwei eigentlich schon den Anschluß verpaßt hatten.

„Herr Rath —” sagte der Baron, indem er den alten Herrn, welcher eregt zu der Unfallgruppe eilen wollte, zurückhielt, „ich glaube das Benehmen meines Freundes, wenn auch nicht entschuldigen, so doch erklären zu können. Er ist durchaus nicht betrunken — er ist verliebt, Herr Rath, und zwar in Fräulein Tochter.”

Herr Perbandt sah mit offenem Munde auf.

„Aber lieber Assessor,” entgegnete er dann, „wenn Herr Grewe meine Tochter liebt, so ist das doch kein Grund, sich wie ein Amokläufer zu geberden!”

„Allerdings. Aber Sie wollen geneigtest berücksichtigen, Herr Rath, daß mein Freund sehr schüchtern und durch die Auszeichnung, welche ihm mit der Aufforderung zum Tanz widerfahren, einfach kopflos geworden ist. Er hat eben seine Empfindungen leider nicht in dem wünschenswerthen Maße beherrschen können. Jawohl.”

„Das ist aber merkwürdig! Nun, unter diesen Umständen bleibt ja eigentlich gar nichts übrig — — und das wäre immerhin eine discutable Lösung angesichts des Scandals.”

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Und abermals saß der Assessor Julius Grewe in der Garderobe — auf dem rechten Fuß statt des spanischen Lackstiefels einen Gummischuh des Herrn Raths, den ihm dieser nach einer längeren Auseinandersetzung unter vier Augen angeboten, bis der richtige Rechte, nach welchem der Herr Rath höchstselbst geschickt hatte, zur Stelle war.

Als der Baron eintrat, um nach seinem Freunde zu sehen, strahlte ihn der Dicke selig an und rief:

„Malottkichen, Du hast ja keine Ahnung, wie glücklich ein Mensch durch enge Stiefel werden kann!”

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